Idealgewicht bei Kaninchen

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oder: Warum hat mein Kaninchen ständig Bauchschmerzen, Verstopfungen, Blasengrieß oder Wunde Läufe?

Wisst ihr überhaupt noch, wie normal gewichtige Kaninchen aussehen? Ähnlich wie bei Hunden und Katzen scheinen Kaninchenhaltern im Alltag keine brauchbaren Vergleichswerte zu haben. Eine verantwortungsbewusste Haltung schließt aber auch mit ein, sich selbst reflektieren zu können, Kritik anzunehmen und diszipliniert zu sein, statt bei den eigenen Tieren immer wieder beide Augen zuzudrücken und sie mit Saaten, Leckerlies und Obst zu verwöhnen.

Woran erkenne ich ein übergewichtiges Kaninchen?
– eine große Wamme am Hals (normal große Wamme: siehe Bild oben)
– ein kleiner Kopf und winzige Füßchen an einem unverhältnismäßig massigen Körper
– Fettpolster im Bauchbereich und Speckfalten am ganzen Körper
– Schwabbelige/hängende Haut an den Beinen
– deutliche Fettansammlungen im Röntgenbild
– Wirbelsäule, Rippen und Hüfthöcker sind kaum mehr fühlbar
– am Gewicht im Vergleich mit Standards (vor allem Rassetiere)

Angebliche Gründe für Übergewicht und ihre Richtigstellung:

„Ich kann aber die Wirbelsäule noch spüren, also ist mein Tier nicht zu dick!“
Um die Wirbelsäule und markante Knochenpunkte gar nicht mehr spüren zu können, bedarf es wirklich hochgradiger Fettleibigkeit! Soweit sollte man es also gar nicht erst kommen lassen und dem schon früher bewusst entgegenwirken. Daher ist Tasten nur aussagekräftig, wenn derjenige auch bereits genug Vergleiche hatte und einschätzen kann, ob man von den Knochen jetzt zu viel, zu wenig oder ein ausgewogenes Verhältnis fühlt. Außerdem sollte man das Gewicht eines Tieres nicht nur an einem einzigen Parameter festmachen, sondern alles im Großen und Ganzen beurteilen, also Gewicht, fühlbare Knochenpunkte und die seitliche Ansicht, sowie die Vogelperspektive zusammengenommen.

Bei Kaninchenmixen ist es schwer, sich an einem Standardgewicht zu orientieren, aber auch zu gewissen Größen und Ohrlängen gibt es Referenzwerte. Ich wiege meine Kaninchen beispielsweise einmal pro Monat und kann so ganz leicht sagen, ob jahreszeitlich bedingte Schwankungen noch im Rahmen liegen oder ob es da im Vergleich zu den Vorjahren extreme Abweichungen gibt. Eine Fettzunahme beginnt zunächst unbemerkt durch Fetteinlagerungen um die inneren Organe (vorzugsweise zwischen den Gebärmutterhörnern), deutlicher wird sie, sobald den Tieren eine Wamme wächst und die immer mehr an Größe zunimmt. Hochgradige Adipositas hat man dann sobald das Tier auch am restlichen Körper und an den Beinen schwabbelige Fetteinlagerungen und Speckfalten hat.

Gerade langes Plüschfell kann auch sehr tückisch sein: Nicht nur Speckfalten werden darin wunderbar verborgen, es kann auch Abmagerung kaschieren. Bei diesen Tieren ist eine korrekte Beurteilung sehr viel schwerer. Rexkaninchen mit ihrem kurzen Fell, machen es einem dagegen sehr leicht.

“Wir essen auch mal Chips, das ist voll okay!“
Seien wir mal ehrlich, wirkliche Gründe sind das nicht, sondern eher vermenschlichte Rechtfertigungen. Denn wenn wir damit anfangen, dass wir ja auch mal Süßes naschen, vergleichen wir ja automatisch unser Magen-Darm-System mit dem eines empfindlichen Pflanzenfressers, was schon aus anatomischer Sicht nicht angebracht ist. Auch Leckerlies/Saaten/Obst zu geben, weil sie es mögen oder damit Abwechslung geschaffen werden soll, ist aus Sicht der artgerechten Ernährung fehl am Platze. Es gibt doch eine so hohe Artenvielfalt auf Wiesen und so viele gesündere und natürlichere Alternativen als täglich händeweise Erbsenflocken und Saaten zu verfüttern. Frische Petersilie, Dill, Löwenzahn, Blüten… und ja lieber auch 2-3 Erbsenflocken oder getrocknetes Wurzelgemüse pro Nase und pro Woche statt täglich einen vollen Napf Saaten oder täglich Obst. Leckerlies sollten wirklich seltene Leckerlies sein, hier ist Disziplin gefragt. Natürlich schmecken ihnen die Dickmacher, wie uns die zuvor erwähnten Chips schmecken.

“Kaninchen wissen, was sie brauchen.“
Ja, Kaninchen können in der Regel Pflanzen selektieren und auch Giftpflanzen aussortieren, aber zu Leckerbissen sagen sie deshalb nicht nein und selektieren sie aus. Eure Kaninchen hungern bei einer frischen ad libitum Fütterung mit Wiese und blättrigem Gemüse und Kräutern nicht, sie sind höchstens verwöhnt und schlau, sodass sie bei einem Überangebot weniger fressen bzw. nur das Beste davon fressen. Genau das ist doch der Hintergrund und das Ziel einer gesunden ad libitum Fütterung. Abwechslung haben sie durch diese Fütterungsart sowieso, verhungern werden sie auch nicht, wieso also dann Saaten/Leckerlies geben „damit sie überhaupt was fressen“ bzw „genug Abwechslung haben“? Das passt nicht ins Konzept der artgerechten Fütterung, die man doch eigentlich verfolgt.

“Saaten sind wichtig zur Abwechslung/besseren Verdauung etc.“
Dass Saaten seit wenigen Jahren im Trend sind, bereitet ebenfalls Sorgen. Für alle Zipperlein werden sie als Unterstützung angeboten: Leinsaaten bei abgeschluckten Haaren, Fenchelsamen bei Bauchweh, Mariendistelsamen bei Leberproblemen, Schwarzkümmelsaaten zur Immunsystemstärkung usw. – kann man machen, aber bitte nur bei Kaninchen, die nicht zum Übergewicht neigen und das sind, vielen Fotos nach, die wenigsten. Saaten sind keine Allheilmittel, sie bringen ihre ganz eigenen Risiken mit sich, worauf ich im nächsten Absatz eingehen werde. Da ist es wichtig abzuwägen, statt blind Ratschlägen zu vertrauen und vor allem ist es wichtig, dass wenn man sich für eine Saatenmischung entscheidet, diese individuell auf sein Kaninchen abstimmt. Es gibt keine allgemein gültige Saatenmischung. Für all diese Wehwehchen gibt es zudem Alternativen. Gerade im Fellwechsel kann bei anfälligen Tieren rohfaserhaltiges Futter, wie z.B. Wiese und Heu (zieht die Haare quasi im Darm mit sich), Lactulose und regelmäßigem Bürsten während des Fellwechsels, sodass die Haare gar nicht erst in den Magendarmtrakt gelangen. Ja, die meisten Kaninchen hassen es und ja, es ist Stress und ja, man macht sich dadurch im Gegensatz zum Napf voller Saaten sehr unbeliebt. Aber es ist effektiv und die Sache wert, wenn man damit eine Magen-OP umgehen und ein fettleibiges Kaninchen vermeiden kann.

“Winterspeck ist überlebenswichtig, vor allem in Außenhaltung.“
Wieso fressen sich Kaninchen über Wiese, Wurzeln, Getreide- und Gräsersamen ein Fettpolster an? Weil es kaum etwas zu fressen gibt und sie ihre Verdauung über den Winter manchmal sogar nur mit dem eigenen Blinddarmkot aufrechterhalten. Die Kälte ist da eher sekundär, denn gegen die gibt es das Winterfell, Artgenossen zum Kuscheln und ein geschützter Bau. Wozu brauchen unsere Kaninchen in Gefangenschaft dann Winterspeck, wo sie doch auch im Winter täglich ein Buffet präsentiert bekommen und sich dafür gar nicht groß vom Schutzhaus wegbewegen müssen?

“Sie brauchen einen Vorrat für schlechte Zeiten.“
Auch „schlechte Zeiten“ wurden mir schon als Gegenargument geliefert. Wie sind diese definiert- Winter, Krankheit? Und was, wenn diese „schlechte Zeiten“ aber eben durch dieses „Ihr müsst euch zur Sicherheit einen Vorrat auf die Rippen fressen“-Verhalten gefördert werden und Blasengrieß und Verstopfungen entstehen, statt sie zu vermeiden?

“Bei Weibchen sind die Wammen angeboren.“
Nun noch zu den angezüchteten Wammen von Weibchen. Ja, es stimmt, Weibchen sind „anfälliger“ für Wammen, da sie von der Natur aus dazu bestimmt sind quasi am laufenden Band tragend zu sein bzw. zu säugen, was enorme Energiereserven fordert. Diese Energiereserven legen sich die Weibchen dann in Form dieser Wammen an, sodass bei einigen Rassen Wammen auch nicht als „Fehler“ gewertet werden, sondern genetischen Ursprungs sind. Damit sind kleine Wammen gemeint. Auf dem Bild oben seht ihr ein reinrassiges Zwergkaninchen der Farbe weißgrannen. Die Hautfalte am Hals ist eine angezüchtete Wamme normaler Größe. Das Tier hatte stets ein Gewicht von 1.25kg, was dem Idealgewicht des Rassestandards entspricht und somit einen guten Anhaltspunkt bietet, wie Kaninchen vom Gesamterscheinungsbild aussehen sollten. Große Fettfalten, die die Kaninchen als Kopfkissen mit sich herumtragen, sind demnach wirklich zu viel des Guten und ein klares Anzeichen von Übergewicht. Rammler sollten dagegen gar keine Wammen haben.

“Aber mein Kaninchen ist zu dünn, ich muss zufüttern!“
Durch die ständige Konfrontation mit dicken Kaninchen meinen viele saatenfütternde Kaninchenhalter, ihr Tier wäre zu dünn und müsse zugefüttert werden. Stattdessen hat unser Alltagsbild dazu geführt, dass sich unsere Wahrnehmung verfälscht, wir perfekte Kaninchen für untergewichtig halten und meinen unbedingt den Trend der Saatenfütterung mitmachen zu müssen, denn auch im Vergleich fühlen sich normalgewichtige Kaninchen ja viel knochiger an. Dabei haben unsere Kaninchen es doch gar nicht nötig so kalorienreich ernährt zu werden.

Folgen von Saaten und Übergewicht
Übergewicht sorgt für:
– eine geringere Lebenserwartung
– eine durch Speckfalten erschwerte Aufnahme von Blinddarmkot –> Durchfallsymptome –> Fliegenmadenbefall
Wunde Läufe
– ein erhöhtes Narkoserisiko und schlechtere Verstoffwechselung von Medikamenten
– Fettnekrosen
– Stoffwechselstörungen
– Herzprobleme
– Atemprobleme
– ein schwächeres Immunsystem
– Bewegungsunlust

Mangelnde Bewegung fördert:
Verstopfungen
Blasengrieß und Harnsteine
– nochmals Wunde Läufe

Die vielen Kohlenhydrate in Saaten blockieren die Motilinrezeptoren im Darm und verlangsamen dadurch die Darmeigenbewegung, dadurch wird die Entstehung von Verstopfungen und Darmparasiten gefördert, zudem ein überschießender Hefegehalt in der Darmflora. Natürlich sind bei manchen dieser Komplikationen und Risiken auch noch andere Faktoren im Spiel, auch diese sollten natürlich berücksichtigt werden. Dennoch ist es wichtig, sich vor Augen zu halten, dass Übergewicht und eine Saatenfütterung durchaus häufige Wegbereiter der genannten Probleme sind.

Bewegen sich die Kaninchen weniger, wird auch der Harn in der Blase nicht so häufig „aufgeschüttelt“, wodurch sich leichter Ablagerungen und Ausfällungen bilden können. Bei Wunden Läufen ist es so, dass das Hauptgewicht der Kaninchen auf den Ballen der Hinterbeine lastet. Ist dieses Gewicht höher als natürlicherweise vorgesehen und lastet es zudem fast ununterbrochen auf den Hinterbeinen, wenn die Kaninchen aus Trägheit kaum hoppeln, fördert dies unweigerlich eine Pododermatitis (= Wunde Läufe).

Und bitte macht euch den Energiegehalt von Saaten bewusst! Die Samen einer Pflanze sind dazu bestimmt, dass aus ihnen Leben in Form einer neuen Pflanze entsteht. Könnt ihr euch vorstellen, wie viel Energie in diesen winzigen Körnern konzentriert sein muss, damit dies überhaupt möglich ist? Der darin enthaltene hohe Gehalt von Eiweiß und Kohlenhydraten blockt die Motilinrezeptoren im Kaninchendarm. Motilin ist ein Enzym, das für die Darmbewegung zuständig ist, folglich sinkt diese, wenn die Rezeptoren durch die Inhaltsstoffe der Saaten blockiert werden. Es gehört nicht viel Vorstellungsvermögen dazu, dass dadurch leichter Verstopfungen entstehen können, wenn die Nahrung generell langsamer durch den Darm wandert.

Was also tun?
– Selbstkritisch das Gewicht der Kaninchen beurteilen
– regelmäßig wiegen und dadurch selbst ermitteln, ob und wie viel ihr eure Kaninchen zufüttern müsst, damit sie ihr Idealgewicht halten (können)
– neue Trends kritisch hinterfragen
– immer die Natur als Vorbild behalten und so gut es geht auf die eigene Haltung übertragen
– nicht grundlos bzw. mit vorgeschobenen Rechtfertigungen Saaten, Trockenfutter, massenweise Erbsenflocken und sonstige Leckerlies füttern
– auch Obst als Leckerlie einstufen, sowie Wurzel-/Knollengemüse, wenn überhaupt, nur stark reduziert und rationiert anbieten, keinesfalls ad libitum
– her mit Wiese, Zweigen, Kräutern und blättrigem Gemüse ad libitum

Wie am besten eine Diät angehen?
– Saaten, Trockenfutter, Leckerlies, Obst, Wurzel-/Knollengemüse komplett und unnachgiebig streichen, nicht nur reduzieren, denn auch „weniger“ ist meist noch zu viel! Ein Ausschleichen ist nicht nötig! Nehmt frische Küchenkräuter oder Löwenzahn als Leckerlie
– Auslauf, Auslauf, Auslauf – davon kann es nicht genug geben!
– das Gehege und den Auslauf ggf. umgestalten: Haben die Kaninchen überhaupt Platz und eine angemessen lange Strecke von mehreren Metern in der Gerade um mal richtig Gas zu geben und Haken zu schlagen, oder ist alles vollgestellt?
– auch Löwenzahn, Luzerne und junge Pflanzen sind sehr eiweißhaltig und gehaltvoll, diese am besten beim Wiesesammeln meiden
– das Futter im Gehege verteilen, erhöht aufhängen, verstecken, um die Kaninchen so zu beschäftigen und zur Bewegung animieren
– für Abwechslung sorgen
– keinesfalls Hungerphasen einführen! Eine Gewichtsabnahme ist auch bei einer gesunden ad libitum Fütterung mit Wiese, Zweigen, Kräutern, Blattgemüse und ausreichend Auslauf möglich
– Erfolgskontrolle und ggf. Vorgehen optimieren durch regelmäßiges Wiegen

Ihr werdet feststellen, normal gewichtige Kaninchen bewegen sich mehr, sind agiler, springen und sind viel interessanter zu beobachten! Es muss auch unterschieden werden, ob die Kaninchen vielleicht ehemals zu dick waren, denn auch nach erfolgreicher Diät bleiben manchmal Hautfalten zurück, die das Kaninchen dick erscheinen lassen, dabei ist die Haut einfach nicht mehr elastisch genug, um sich zurückzuziehen. Dieses Phänomen lässt sich auch bei alten Kaninchen beobachten, wenn die Hautfasern mit der Zeit ihre Elastizität einbüßen. Aber bitte bleibt auch hier selbstkritisch und flüchtet euch nicht in diese Optionen, wenn dem nicht so ist.


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